Freitag, 10. März 2017

Arzneimittelengpässe in deutschen Krankenhäusern? Über erneute Hinweise auf ein Mangel-Problem und eine Ursachensuche in der bestehenden Ökonomie der Arzneimittelproduktion


Der Deutsche Bundestag hat gestern das "Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV" (AMVSG) in letzter Lesung beraten (vgl. dazu Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AMVSG) sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Gesetzentwurf (AMVSG). Bis zuletzt wurde daran gefeilt. Eine Übersicht über die wesentlichen Punkte des AMSVG und die - nicht überraschend - sehr unterschiedlichen Bewertungen dessen, was da nun auf den Weg gebracht wurde, findet man beispielsweise in diesem Artikel: Neues Gesetz zur Arzneiversorgung verabschiedet. Das zuständige Bundesgesundheitsministerium zitiert in einer Pressemitteilung zum Gesetzgebungsverfahren den eigenen Minister Hermann Gröhe (CDU) mit diesen Worten: "Wir sorgen dafür, dass sich Patientinnen und Patienten auch in Zukunft auf eine hochwertige und bezahlbare Arzneimittelversorgung verlassen können. Das Gesetz leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass Arzneimittel mit einem Mehrnutzen schnell den Weg in die Versorgung finden, Antibiotika-Resistenzen und Lieferengpässe bekämpft werden und die Arzneimittelversorgung von Krebskranken weiter verbessert wird." Hört sich doch beruhigend an.

Und dann wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Deutschen Krankenhäusern fehlen Medikamente: »In Deutschlands Krankenhäusern fehlen wichtige Medikamente für die Versorgung von Patienten. Das geht aus einer Studie der AOK Baden-Württemberg hervor, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Die Krankenkasse hat die Arzneimittelversorgung von Krankenhaus-Apotheken unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: bei 280 verschiedenen Wirkstoffen gebe es Engpässe, dreißig davon werden als besonders kritisch eingestuft«, so Mirco Wenig in seinem Artikel.

Die Studie belege, dass die Versorgung mit wichtigen Medikamenten weit lückenhafter ist, als das bisher vermutet wurde, kommentiert die AOK - wobei Thomas Öchsner in seinem Artikel Es fehlen Medikamente darauf hingewiesen hat, dass die Erhebung des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) nicht repräsentativ ist. Die befragten Apotheken decken aber sechs Prozent der deutschen Krankenhauskapazitäten mit mehr als 30.000 Betten ab und müssen eher als Hinweis auf ein Problem verstanden werden.

Wenn es dieses Problem aber tatsächlich gibt, dann kann das enorme und bittere Auswirkungen auf die Patienten haben: Lieferprobleme können dazu führen, dass Kliniken Operationen verschieben oder Antibiotika verabreichen müssen, die Resistenzbildung befördern, ohne dass der Patient davon etwas erfährt, so Öchsner als nicht unrealistisches Beispiel. Vor allem an Krebsmedikamenten und Reserveantibiotika mangle es, so das Ergebnis der Studie.

»Bundesärztekammer, Krankenhäuser und Kassen schlagen Alarm: In den Kliniken vergeht kein Tag, ohne dass es zu Engpässen auch bei versorgungskritischen Arzneien kommt«, so streut Anno Fricke in seinem Artikel In Kliniken spitzen sich Arzneimittelengpässe zu Salz in die offensichtlich problematische Wunde:

»Im Februar 2017 haben in den Krankenhaus-Apotheken 280 verschiedene Wirkstoffe gefehlt, darunter 30 als versorgungskritisch eingestufte Arzneien, vor allem Lösungen zur Injektion. Das hat eine aktuelle Umfrage des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) ergeben. Lediglich für acht Wirkstoffe hätten die pharmazeutischen Unternehmer Lieferschwierigkeiten angemeldet, sagte ADKA-Präsident Rudolf Bernard ... Hochgerechnet seien etwa 12.000 Patienten betroffen gewesen.«

In diesem Passus finden wir dann auch einen wichtigen Hinweis - "angemeldete Lieferschwierigkeiten". Bislang gibt es eine freiwillige Meldepflicht. Liegt ein Lieferproblem vor, sollen die Hersteller dies dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) melden. Dass von den 30 Wirkstoffen, bei denen die Klinikapotheker ein Versorgungsproblem beanstandeten, laut ADKA aber nur acht an die Behörde gemeldet wurden, zeige, "dass die Arzneimittelhersteller das Prinzip der Freiwilligkeit ausnutzen, um ihre Lieferfähigkeit zu beschönigen", so die von Öchsner zitierte Kritik von Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). »Hinzu kommt ein weiteres Problem. Wird ein Medikament nicht geliefert, bleibt unklar, woran das genau liegt. Christopher Hermann, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, spricht von einem "Tal der Ahnungslosen". Trotz der Digitalisierung gebe es keine Übersicht darüber, wer gerade wann was wohin liefert«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel.

Was sind die Schlussfolgerungen aus der Problembeschreibung? Eine Pflicht für pharmazeutische Unternehmer, Lieferengpässe an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden, haben Vertreter der Ärzteschaft, der Krankenhausapotheker und der Krankenkassen gefordert. Die Pharmaindustrie sollte per Gesetz dazu verpflichtet werden, ihre Lagerbestände sowie kurzfristige Lieferprobleme an das zuständige Bundesinstitut zu melden. Im geplanten Arzneimittelgesetz ist bislang eine Meldepflicht der Pharmaindustrie an die Klinikapotheken vorgesehen.

Nun könnte der eine oder andere einwenden, selbst wenn man das machen würde - mehr Mangeltransparenz löst irgendwie nicht das Problem. Und an dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die aktuelle Diskussion über Lieferengpässe wichtiger Medikamente nicht plötzlich vom Himmel gefallen ist.

Schauen wir zurück in das Jahr 2015: Vor zunehmenden Lieferengpässen und Produktionsausfällen bei essenziellen Arzneimitteln hat der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Professor Karl Broich, gewarnt, so der Artikel BfArM-Chef befürchtet dramatische Lieferengpässe vom 24.09.2015.

»Derzeit sind beim BfArM 20 Arzneimittel gelistet, die gegenwärtig nicht geliefert werden können. Jüngst war über einen Zeitraum von fünf Wochen das Onkologikum Melphalan nicht lieferbar. Der Anbieter ist Monopolist, das Arzneimittel ist unersetzlich. Therapien mussten verschoben werden. Im Fall des Antibiotikums Ampicillin/Sulbactam müssen Ärzte auf Reserveantibiotika ausweichen mit dem Risiko, Antibiotikaresistenzen zu begünstigen.«

Betroffen seien meist generische Produkte, häufig Injektionen mit hohe Anforderungen an die Produktion.

Und was konnte man der damaligen Berichterstattung zum Hintergrund dieser bedenklichen Entwicklung entnehmen?

»In der Branche gebe es einen Konzentrationsprozess und den Trend, dass einzelne Medikamente von immer weniger Herstellern produziert werden.
Zudem seien die Produktionen ins preisgünstigere Ausland wie etwa nach China verlagert worden, wo nicht mehr so engmaschig wie in Europa kontrolliert werden könne.«

Wie grundlegend der Strukturwandel in der Pharmaindustrie mittlerweile ist und welche bedenklichen Folgen das hat, verdeutlicht das folgende Zitat des BfArM-Präsidenten: "Die meisten Mittel werden nicht mehr in Deutschland produziert. Aber selbst wenn es nur einen Anbieter für einen Wirkstoff gibt, wäre es eben wichtig, dass er ihn an zwei Standorten produziert. Bei Problemen in einer Anlage wäre dann die Liefersicherheit durch die zweite Anlage gewährleistet."

Auf diese grundlegenden Probleme, die aus der bestehenden Ökonomie der Arzneimittelherstellung resultieren, weist auch der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Professor Wolf-Dieter Ludwig, in der aktuellen Debatte hin, berichtet Anno Fricke in seinem Artikel:

»Mittelfristig sei wichtig, die Wirkstoffherstellung aus Indien und China nach Europa zurückzuholen. Die Konzentration der Grundstoffproduktion stelle alle Beteiligten vor "enorme logistische Probleme". Es sei zu beobachten, dass nicht neue und teure Onkologika von Lieferproblemen betroffen seien, sondern vor allem zum Teil seit 30 Jahren vertriebene Zytostatika.«

Ursache für "Marktverengungen" seien auch die Rabattverträge, so der Branchenverband Pro Generika. Bei versorgungskritischen Arzneien wie Antibiotika werde von den Krankenkassen oft nur ein Anbieter ausgewählt, auch hier wären wir also mit den Folgen von faktischen Monopolisierungsprozessen konfrontiert.

Man ahnt schon, wo der eigentliche Knackpunkt liegt: Selbst wenn man über die geforderte Transparenzerhöhung die Lieferschwierigkeiten betreffend mehr Klarheit bekommen würde, wo und in welchem Umfang es mit der Versorgung klemmt - was sind die letztendlichen Konsequenzen aus dieser Mangellage? So beendet Anno Fricke seinen Artikel mit diesem Hinweis:

»Die arzneipolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Kathrin Vogler, forderte ein öffentliches Register für drohende und tatsächliche Lieferengpässe sowie Sanktionsmöglichkeiten gegen Pharmaunternehmen, die gegen Lieferverpflichtungen verstießen.«

Wenn man das strukturell betrachtet, dann sind wir an der eben nicht nur ökonomisch, sondern mit Blick auf Patienten ganz lebenspraktischen Grundsatzfrage angekommen: Ist die Produktion und die Distribution von Medikamenten ein rein privates Gut (mit allen möglichen Folgen, die wir bei vielen anderen rein privaten Gütern sehen können bzw. müssen)? Oder handelt es sich um ein meritorisches oder gar öffentliches Gut? Die Beantwortung dieser Grundsatzfrage hätte entsprechend weitreichende Konsequenzen für die Ökonomie der Arzneimittelherstellung. Dass die Arzneimittel faktisch natürlich keine rein privaten Güter sind, verdeutlichen die vielen Regulierungen, die auch Gegenstand der aktuellen Gesetzgebung im Kontext des AMVSG sind. Da wird wie generell in diesem Bereich mit vielen Hilfskonstruktionen gearbeitet, über die man eine Steuerung hinbekommen möchte.

Wenn es aufgrund der skizzierten und schon seit Jahren ablaufenden Veränderungen auf der Produktionsseite zu einer strukturellen Schieflage bei der Versorgung mit bestimmten als versorgungskritisch eingestuften Medikamenten kommt, dann muss man am Ende über eine eben auch sanktionsbewehrte Verpflichtung der Pharmaindustrie nachdenken und eine solche gesetzgeberisch umsetzen. Die an sich logische Alternative bei einer Verweigerung wäre am Ende eine Verstaatlichung der Herstellung dieser Medikamente - oder aber die hilflose Zwangsakzeptanz, dass die verengten "Marktkräfte" zu weiteren Lieferengpässen führen müssen, die man dann wortreich beklagen kann und wird.